Fast hättest du es geschafft, diese schöne, stolze Frau zu brechen. Wie oft saß ich in den letzten Fastzwanzigjahren hier an diesem Küchentische und hörte wieder und wieder ihrer immer leiser werdenen Stimme zu, die von eigentlich Unaussprechlichem berichtete. Es war wie ein versichselbständigtes Ritual geworden. Kam unser Gespräch auf dich und jenen Vorfastzwanzigjahrentag, egal wo wir waren, wir schauten uns an, erhoben uns und gingen in die Küche, jenem eigentlich so lebens- und liebensvollen Ort. So auch heute. Die Nacht war unruhig, das Haus voller Mahre. Ich bin die Treppe hinauf gestiegen, einen Tee mir zu machen. Aus ihrem Schlafgemach klang leises Gewimmer. Ich wollte mich zu ihr legen, sie trösten, ich dachte, es wäre der neue Kummer, der sie kaltschaurig machte. Sie schaute mich an, mit diesem Blick und wir gingen hin zum Küchentische. Ich machte uns Tee, holte die zierlichen Porzellantassen und die Silberlöffelchen. Notwendig waren sie nicht, die Löffel, der eigenkräutergärtige Tee bedurfte noch nie einer Versüßung. Wir brauchten die Löffel um unseren Händen Ablenkung zu geben, wir wollten sie nicht mehr nur ringen. Und wieder rauhte sich ihre Stimme an dem Bericht auf, den du uns an jenem Vorfastzwanzigjahrentag so grausam diktiertest. Ich schaute dabei stumm auf ihre Hände, die im Abspulen der Jahre eine ganz andere, beredte Schönheit angenommen. Der kleine Silberlöffel tanzttangote zwischen ihren schmalen Fingern, die hervorstehenden Adern auf ihren Handrücken schienen den Takt vorzugeben. Jedes ihrer Worte kannte ich, doch sie brannten sich jedesmal aufs Neue gräßlich in meine Seele hinein. Dann ein Stocken, eine Pause in der Wortflut. Sie stand auf und verließ mich. Ich vermochte es nicht, den Blick zu heben, ihr hinterherzusehen. Versuchte nur, das Augenwasser hinterm Wimpernvorhang zu halten, er war doch noch nicht beendet, ihr Bericht. Und in mein stummes Ringen hinein schob sich auf blumentuchigen Untergrund ein feinliniiertes Stück Papier. Deine Handschrift sprang mir so strenggradschraffiert in die ohnehin wehen Augen, unmöglich da noch den Warmsalzfluß zurückzuhalten. Lautlos weinte ich die so vertrauten Tränen, kein Schluchzen, keine Schauer, die den Rücken bogen und den Kopf senkten. Ich beweinte dieses Stückchen Papier, das sie so lange vor mir verborgen hatte. Zwar wußte ich um die Existenz dieser letzten Worte, doch nie zuvor hatte sie eines von uns Kindern teilhaben lassen. Ich habe ihn nicht in die Hand genommen, ich senkte meinen Kopf noch tiefer, nachdem ich deine Worte in mich aufnahm. Sie hat ihn wieder an sich genommen, weggetragen und als sie zurückkam, sagte sie die den Kreis sich schließenlassenden Worte: „Kind, liebes, genau hier fand ich den Zettel, hier auf dem Küchentisch.“ Ich hob endlich den Blick und sah in ihre müdegeweinten Augen, in denen dennoch so oft Schalk und Übermuth blitzte. Ich habe deine Worte verinnerlicht, mein Zorn erlischt allmählich. Und noch ein Kreis scheint sich langsam zu schließen, ein Fastzwanzigjahrefrieden erscheint tröstend möglich. Fast hättest du es geschafft, diese schöne, stolze Frau zu brechen. Aber nur fast, Papa, aber nur fast.