Mein lieber Victor, was ich Ihnen heute zu hinterlegen habe, es ist mir, als müßte mein Herz beim Notatieren brechen. Vielleicht wäre das ein leichterer, schneller Tod, als das Schicksal, was mich nun erwartet. Das Aufnotieren, es deucht mich erstmals, ich schreibe nicht Ihnen, sondern mir selbst, um nicht den Verstand zu verlieren. Den Bernstein, er ist ganz dunkel und kalt geworden in meiner Hand; umklammernd, schreibe ich Ihnen im flackernden Licht der Petroleumlampe. Das Licht des Luftschutzbunkers in dem ich mit den anderen Angstbündeln hocke, ist schon längst verloschen, als hätte es aufgehört an sein eigenes Leuchten noch zu glauben bei all dem Dreckgeriesel, den Erschütterungen und dem dumpfen Grollen über unseren Köpfen. Ich habe jedwedes Zeitgefühl verloren, mein liebster, fatamorganischer Victor in meinem Geiste. Warum schreibe ich Ihnen? Mir will mein eigenes Leuchten vergehen, gleich dem elektrischen Lichte. Ich glaube nicht mehr. In dieser Hölle ist kein Platz für Glaube und Hoffnung. Und doch schreibe ich Ihnen. Wer söllte das Notat überbringen? Wohin? Wo hat Sie dieser Krieg hinvertrieben? Mich trieb er wie Schlachtvieh vor sich her. Ich floh und floh und rannte um mein Leben. Ich weiß noch um meine Gedanken, als ich erstmals einen Blick auf die Silhouette dieser Stadt warf: Das muß ein Ort der Schönheit und des Friedens sein. Prachtvolle Kirchbauten verschiedenster Glaubensrichtungen und sogar der Anblick einer exotisch anmutenden Moschee versprachen dies mir. Nie könnten Haß und Tod hier wüten, meinte ich. Welch‘ eine törichte Annahme! Nun, da ich hier in Staub und Schutt hocke, stummängstlich wie die anderen Graugeschöpfe. Der Krieg hat uns feuerspeiend vor sich her getrieben, verschluckt und spuckte uns wenige Überlebende hier unter den Trümmern der Stadt wieder aus. Anfangs öffnete sich die von der Hitze immer schiefere Stahltüre noch kreischend und ließ eine weitere verrußte Lumpengestalt ein. Dann erglühte der ganze Raum unheimlich rot und wir vernahmen das Heulen des Feuersturmes, der über uns hinwegfegte. Doch das ist längst vorbei. Victor, mein lieber Victor, ich wage kaum, meinen Kopf zu heben, um die anderen Elendswürmchen zu betrachten. Der Einbeinige, sein Alter schwer zu schätzen, die Augen leer, der Stumpf glänzt schwarzlumpig nass. Die Frau, auch sie alterslos, sie drückt ein Leblosbündel sich an die Brust. Egal, wie lange ich augentränig darauf starre, es deucht mich, kein Leben sei da drin. Ich flehe innenstimmig alle Götter an, es möge nicht das seyn, was ich vermute. Der Greis, vielleicht ist er erst in dem meinigen Alter, tonlos weint er, eine Puppe im Arm. Oh, Victor, es ist entsetzlich und ich danke fast dem Funzellicht, daß es nicht weiter reicht. Die Augenmarter, die noch hier unten haust, ich will nichts von ihr wissen, mein Geist verweigert die Annahme. Ich lenke meine Gedanken hin zu Ihnen und dem Schwarzkieselgestade, an dem Sie auf mich warten. Sie haben mir immer Musik gesandt, warum nicht jetzt, in meiner dunkelsten Stunde? Ich will mich kümmern, denke mir das ständige Grollen über meinem Kopfe als die anlandenden Flüsterwellen und da, ein Summen. Atme tief ein und aus dem Angstgestank ahne ich ein Salzmildwürzduft heraus. Senke den verrußten Wimpernvorhang und das Summen verstärkt sich. Ich hebe den Blick wieder und ein Augenlicht läßt mich den kaltharten Stein unter mir vergessen. Der Einbeinige, er schaut mich an und ein Leuchten ist in seinem Blick als er die Melodie, die in meinem Kopfe entstand mitsummt. Auch der vermeintliche Greis hebt seinen Graukopf und wie die Asche von seinem Haupte rieselt, scheint er sich zu verjüngen. Er beugt sich zu der Frau und legt ihr die Puppe auf den Schoß. Da regt sich auch das Bündel und ein Schmalarm greift nach ihr. Warm wird mir und ich vergesse Zeit und Raum. Es ist, als folge ich dem immer intensiverem Pulsen des Bernsteins in meiner Hand. Victor, mein Victor, ich kann Sie sehen…