Geöffnet für Hunderte, doch offen dann nur für eine…

Es rappelvollt sich im Floratelier und in den restlichen Räumlichkeiten. Lächeln, Lachen und Komplimente verheddern sich zu einer berauschenden Wolke, die zu den Klangpirouetten des Saxophonisten im bonfortionösen Hinterhofe gen Himmel tanzen will, nur um mit den applaudierenden Tropfen regentuchig wieder auf uns herunter zu kaskadieren. Ich lächle immer wieder über die Schirmkapitulationen, denen schulterzuckende Ergebenheit folgen und freue mich weiter über jeden neu durch den schlitternassen Gang hereindräuendem Neugierstrupp. Sie jedoch habe ich nicht kommen sehen.

Hände werden mir entgegengestreckt, Fragen erfordern konzentrierte Aufmerksamkeit, das hier, das bin ich und mein Tagwerk und es will beworben werden. Ich eile treppauf, treppab, stelle vor, erkläre, hole neue Gläser und zwinkere meinen Lieben zu, die mich in diesem Tun begleiten. Bade in Bewunderung und Zugeneigtheit, wie könnte ich dieses Wonnegefühl in Worte fassen? Photoapparaturen blitzen auf, mancher möchte doch noch ein Sträußchen mit nach Hause nehmen, also wieder hinein ins Floratelier und flugs die blumigen Zutaten zusammengesucht. Und da entdecke ich sie.

Sie sitzt still in dem Bequemsessel, schaut auf ihre Hände, die aneinander Halt zu suchen scheinen. Adrett wie immer und doch wirkt sie anders als sonst. Ich binde mein Bouquet fertig und verabschiede dankend die Besucher, die voll des Lobes sind, zu voll, um ein Ende zu finden. Ich murmele was von Notdurft und stillem Örtchen und eile doch nur, zwei Proseccogläschen zu füllen. Dränge mich durch die schwatzenden Menschen und hocke mich auf den Hocker vor dem Sessel. Achbitte, darf ich hier ein Weilchen sitzen bleiben, ich schaffe es sonst nicht bis nach Hause, flüstert sie, während ihre hellblauen Augen von Tränen geflutet werden. Das erste Glas trinkt sie in einem Zug.

Solange Sie möchten, antworte ich und erkenne langsam pupillenwandernd die Andersheit dieser sonst so stolzen, aufrechten Dame. Ihr Weißhaar ist wie stets perfekt frisiert, nur an den Schläfen haben sich einzelne Strähnen gelöst, als hätten haltsuchende Hände an ihr gerührt. Der oberste Knopf an der immer picobello sitzenden Steifbluse steht offen und auf dem hellgrauen Rock sind verriebene Flecken zu sehen. Mein Blick kehrt zu ihrem schönen Gesicht zurück und nun sehe ich auch die dickgeweinten Augenlider. Fast quälend mühsam senkt sie ihren längst entschwarzten Wimpernvorhang. So hören Sie doch, so eine schöne Musik. Die hat mich hereingerufen.

Mich rufen meine Pflichten, ich nicke ihr nochmals schlicht zu und muß dann doch weitereilen. Doch immer wieder lenken mich meine Schritte in das Floratelier hinein, ja, da sitzt sie. Still in sich versunken, der nächste Anblick ein angeregt unterhaltsamer, dann sogar ein kicherndes Junggesicht, das durch den Fältchenvorhang blitzt. Langsam neigt sich der Sonntag seiner Abendruhe entgegen und mit ihm verebbt der Besucherstrom. Mit zwei neuen Gläschen lasse ich mich erneut bei ihr nieder und habe nur eine Replik auf ihre Glückwünsche. Aber Sie, Sie sehen so traurig aus.

Da bricht es aus ihr heraus: Er erkennt mich bald nicht mehr. Seit Wochen nervt er mich, weil er nicht im Heim bleiben will. Hol mich nach Hause, immer hat er das gefleht. Aber das kann ich doch nicht, ihn pflegen, ich habe doch selber keine Kraft. Und heute, heute hat er mich gefragt, wer ich bin. Wer ich bin! Wissen sie, wie schwer das ist? Ich habe ihn geschüttelt und geküßt und dann fragt der, warum ich denn weine! Ich habe keine Kraft mehr und ich schäme mich so dafür und dann bin ich gegangen. Und dann war hier diese Musik. Der bin ich einfach gefolgt und nun haben Sie mich an der Backe.

Ich reiche ihr stumm ein Taschentuch. Eine Weile sitzen wir still beieinander, ich heule inneräugig mit ihr, doch mein Momentanglück läßt keine bittermandeligen Tränen zu. Sie schluchzt noch einmal und wischt sich dann über das müde Gesicht. Gladiolen, ich sitze hier unter Ihren Gladiolen, er hat mir immer welche geschenkt. Ach, ich muß jetzt gehen, Sie haben doch zu tun. Mir bleibt nur, ihr durch den immernoch rutschnassen Gang zu helfen. Dann schaue ich ihr ein Weilchen nach, wie sie die Straße hochgeht, die einzelne heimlich zugesteckte Gladiolenrispe winkt mir aus ihrer Tasche zustimmend zu.

Gladiole