Claras Chronik 16.09.2015
Mein lieber ferner Victor, ich habe einen athempausigen Unterschlupf gefunden. Dieses ständige Wandern und Hadern, es zermürbt mich. Mir ist langsam, als müsse sich mein eigenens Menschsein ausdünnen in dieser Seelenverlassenheit. Und die stummstille Begleiterin an meiner Seite, die müddochnichtruhenkönnende Angst, welchem Vertreter meiner Art ich wohl begegne, die machte mir mein Ausschreiten auch nicht leichter. Ach, mein Victor, wie töricht war ich doch anzunehmen, mir gereichten Flora und Fauna als Gesellschaft! Es waren die zuvorigen Erlebnisse mit den meinigen unserer Art. Was ich sah, mein stillstummer Victor, hat sich wie Säure in meine Augäpfel gebrannt. Was ich vernehmen mußte, die Schreie der Ertrinkenden, die wildverhaßten Grollrufe derer, die sie aus den Booten stießen; es sind mir Laute schlimmer als jedes Wolfsgeheul. Raubtiere reißen ihre Beute um des eigenen Überlebens willen. Und so zeigt sich des Menschen eigentliches Sein. Und doch weiß ich innendrinnig, so kanndarfmuß es nicht gelingen, dieses Überleben. Ich sah einen, der sprang aus einem der überfüllten Boote, um ein fremdes Kind zu retten. Ich weiß nicht, ob es ihm gelang, weiß nichts von seinem weiteren Verbleib. Und doch ist mir dies Bild ein heller Trost, ein Zeichen gar, so kann es sein. Denn ich folgte ihm. Sprang, um das Überleben eines anderen Menschenkindes zu behelfen. Ein kleines Mädchen, wildäugig umklammerte es meinen Hals, drückte mich unter das wellenbergsalzige Wasser, verstand meine gurgelnden Anweisungen nicht. Lieber Victor, ich weiß nicht, wessen Glaubenswesen uns an das steinige Ufer gelangen ließen, ihr Allah, den sie schrillstimmig anrief oder meine salzspuckenden Stoßgebete an alle Götter der Barmherzigkeit, doch irgendwann schlug ich mir die Kniee an spitzen Graten wund. Löste ihren Klammergriff und dann erlösten mich wohl meine Barmgedanken aus einem völlig erschöpften Sein. Als ich erwachte, war ich allein. Der fremdäugige Wildfang war verschwunden. Mögen mir die Zumglücksgedanken jenes Momentes doch irgendwann verziehen sein, denn seitdem irre ich alleine durch dieses fremde Land. Erst wohlgemuth, fast euphorisch gar. Überlebt zu haben macht einen schier trunken vor Dankbarkeit. Und die Natur ernährt mich gut. Ich hörte vor Antritt dieser gefahrvollen Reise, die alle meine monetären Mittel verschlang, von Routen die durch sandige trostlose Wüsteney führen. Ein grausamer Gedanke. Doch dann überfiel mich eine Reue, die mir um ein Vielfaches tiefer den Nacken beugte. Irrt das Mädchen genau so umher wie ich? Weiß sie, welche Früchte sie essen kann? Vermag sie die Laute der Nacht zu deuten? Ach, mein Victor, mich quälen die schrecklichsten Szenarien und mehr als einmal erwog ich, den ganzen Weg zurückzugehen, um nach Spuren von ihr zu suchen. Dann stieß ich auf diese verlassene Hütte. In der ich nun wie gelähmt verharre. Es ist mir, als wäre mein Innerstes durch das geschluckte Salz vertrocknet, süßfade Tropfenfragmente rinnsalen sich aus meinen Augenwinkeln. Heute fand ich nun unter der Bettstatt aus Zweigen und Blättern eine dünne Rolle Pergament sowie eine lederumwickelte Phiole. Die azulne Flüssigkeit dient mir als Schreibgehilfin, meinen Reißbley habe ich wohl im Wasserkampf verloren. Und so wärmt mich unverhofft ein aufflammender Gedanke, den ich nun mit Ihnen hier krakelig teile: Der Gedanke an Sie und an den möglichen Erhalt dieser meiner Zeilen. Schrub ich unverhofft?! Ich törichtes Ding! Sie, mein fernnaher Victor, Sie sind doch meine ganze Hoffnung! Wie mit dieser Niederschrift doch mein Blut anfängt zu pulsen! Und auch der Bernstein, wohlverknotet verwahrt in meinem Brusttuche, er glüht sich plötzlich an mich. Mein herzensnaher Victor, ich werde Sie finden, Sie und das Schwarzkieselgestade, das unsere Wege vereinen wird. Das weiß ich nun endlich wieder und erneuere hiermit mein Gelübde: Ich bin immer die Ihre, Ihre Clara.