bittemito

Tag: Dummheit

Vor einem Jahr ~~~ Februar

Die erste Reise des Jahres wies uns nachhaltig auf unsere Nichtigkeit hin. Den Strelasund fußwärts zu queren, diesen Wunsch übergaben wir beizeiten dem orkanigen Wind und den gefühlt eisigen Temperaturen. Auf der Brücke schrieen wir gegen das Tosen an und stemmten uns immerhin bis Dänholm gegen die Böen. Die Blicke zurück zum Festland waren überwältigend. Unsere Erschöpfung auch. Also harrten wir wie verirrte Haubentaucher am Wegesrand aus. Keine Raubmöwe wollte uns ans durchnässte Gefieder, ein gewogener Busfahrer nahm uns auf.

Stralsund im Februar. Kein Tourismusgetue, hart und karg und ebenso ehrlich und zugewandt erschien uns diese Stadt. Spontan erkundigten wir uns für die frühe Sommerzeit nach einem möglichen Quartier. Staunende Ratlosigkeit bei den freundlichen Gastgebern. Alles ausgebucht und überhaupt! Wollen Sie wirklich in der Saison…? Die ernüchternde Antwort wußten wir sofort: Verzicht.

Andere Antworten suchen wir seit letztem Februar. Einige werden weiterhin ungehört verklingen. Weil man manchmal einfach nicht hinhören mag oder kann. Etliche haben unser Handeln inzwischen in Obhut genommen. Und die eine begleitet uns gut spürbar seit einem Jahr: Verzicht.

Es ist eine gute Antwort in all dem Überfluss. Hören wir genau hin.

Vor einem Jahr ~~~ Januar

Die Menschenmasse war schier unüberschaubar, doch wir durften dank unserer lange vorher gebuchten Tickets an der zischenden und sich windenden Schlange vorbei. Privileg der Ahnungslosen, das wir hatten. Drinnen tobten bereits spürbar die Vorboten der apokalyptischen Vier, nun waren wir unleugbar ein Teil davon. Aber das ahnten wir nur vage. Gingen instinktiv gegen die massiven Ströme, nahmen andere Wege. Durften exclusive Augenblicke genießen und wähnten uns in lässiger Sicherheit. Doch die Erkenntnis tobte unter unserer Haut: Diese Massen, das Gedränge, die knipsende Begierde nach dem schnellen Kick im Klick; das kann nicht mehr lange gut gehen. Viele der Menschen sahen nicht hin, sie wollten gesehen werden. Wir verließen diesen Reigen schnell. Van Gogh to go. So gut gemacht und so unfassbar missverstanden.

Wieviel Tränen wohnen in einem einzelnen Blick?

Städel Frankfurt Ausstellung Van Gogh Januar 2020

Zum dreizehnten Mond hin

Zwölf Monde erhellten unser ruhendes Dunkel diesjährig bereits. Der dreizehnte bringt uns ans Ende eines Jahres, welches entblößt und wahre Gesichter zeigt. Ein Jahr der Offenbarungen. Gezeiten ändern dich.

Heute in der diakonischen Einrichtung. Nach vierzehntägiger Quarantäne ist sie wieder für externe Seelen geöffnet. Der Betreuer, der meinem Schützling zugewiesen ist, sieht müde aus. Berichtet schlagwortartig, es ist keine Zeit für lange Umschreibungen: Dreiundreißig Klienten, zwanzig Mitarbeiter, alle infiziert. Krisenmanagment funktioniert bis an alle möglichen Grenzen. Halbehalbe zwischen leichtem und schwerem Verlauf. Zwei intubiert. Keine Todesfolge bislang. Er schluckt, mir steigt Augenwasser auf. Er liest die darin schwimmende Frage, nickt und sagt: ‚Klar machen wir weiter, was denn sonst…‘ Ich antworte bebend: ‚Bis morgen… und Danke.‘

Während die einen Mensch bleiben als soziales Wesen, leugnen andere unabdingbare Notwendigkeiten. Bringen sich und andere unnötig in Gefahr. Es macht mich fassungslos, was Wohlstand aus uns zu machen vermag. Noch die kleinste freiwillige Einschränkung trifft auf harschen Widerstand. Manche fühlen sich gar als Opfer, wähnen sich diktatorisch beherrscht. Was bleibt uns denn als Gemeinsamkeit? Reden. Schreiben. Verstehen. Und beten.

Ich bete zum dreizehnten Mond der Milde, er möge Erbarmen in sein Strahlen legen. Und Weisheit. Sende Bittworte an Jupiter und Saturn, sie mögen uns mahnen in ihrem innigen Kusse gerade in diesem Jahr. Und ich denke die gut an, die trotz Sorge für uns sorgen. Ich glaube an die Menschlichkeit, immer.

Draussen im System

Ein kurzer Anruf und ich bin wieder Draussen. Draussen im System. Nach wochenlangem Drinnen, erst in selbstgewählter Quarantäne und dann freiwillig nur intervallig öffentlich unterwegs; bin ich wieder relevant für das System. Wobei meine Relevanz nicht wirklich dem System an sich nützt. Weil diese Charakterisierung einzelner Gruppen und den darin verankerten Menschen verdammt gefährlich ist. Kommt nach der Zweiklasseneinteilung bald die Unterscheidung in bedeutsame und unbedeutende Menschen? Und welches System könnte das für sich beurteilen?

Meine Relevanz besteht nur in der Funktion eines Bindegliedes. Als Betreuer für einen Menschen, der sich selbst nicht helfen kann. Zwischen Familie und professioneller Tagesbetreuung agierend. Nach wochenlanger Stagnation muß die Förderung von Menschen mit erheblichen Einschränkungen wieder anlaufen. Ich schlafe eine Nacht äußerst unruhig, grübele wie das in diesem Falle kontaktfrei ablaufen könnte. Und erkenne: Es geht nicht. Also muß medizinischer Mundschutz her, Handschuhe und vor allem ein konkreter Plan. Meine Relevanz ist am ehesten mein Verantwortungsbewußtsein.

Ein kurzer Anruf genügt und ich bin wieder Draussen. Rückblickend auf die Drinnenzeit kann ich reinen Herzens sagen: Ich habe das bestmögliche aus und in diesen Tagen gemacht. Danke für die virtuelle Begleitung, es war kwasi bonfortionös wieder hier zu sein.

 

Pupillenpurzelbaumportrait

Wenn die Welt Kopf steht, ist eine eigene Ansicht unumgänglich.